Stilles Erleben
Die Ausstellungen von Odile Villeroy folgen auf einander, doch sie ähneln sich nicht. Vor wenigen Monaten noch ließ die Zeichnerin – es ist dieses Wort, das am häufigsten in unseren Gesprächen auftaucht, nicht Malerin oder Graveurin, obwohl sie schon seit langem malt und seit kurzem auch Gravuren herstellt – ungewöhnliche Bäume vor unsern Augen wachsen. Ja, mit dem ihr eigenen Humor belebte sie Metamorphosen: sie verwandelte den einen Baumstamm mit einer Brille, die der ihren glich, verkleidete jenen anderen mit einem rosa Unterrock, die oftmals suggestiven Formen nutzend, mit der die Natur das Holz gedreht und ausgehöhlt hatte, um mit Pinsel oder Kohle märchenhafte Geschichten zu erzählen.
In diesem Jahr sind die surrealistischen Träume dem alltäglichen Leben gewichen. Und die redseligen und zur Schau gestellten Objekte den bescheidenen und leisen Gegenständen. Am Anfang waren es, obwohl sie, während sie zeichnet, niemals darüber nachdenkt, die ausgetretenen, schlammverdreckten und kaum noch brauchbaren Schuhe Van Goghs. Ein sicherlich berühmtes aber noch immer erschütterndes Zeugnis des schrecklichen Lebens eines Künstlers, bei dem die Melancholie an den Wahnsinn grenzte. Dann kamen die eigenen, die eigenen Schuhe. Genauer, diejenigen, die sie festhält, um sie zu zeichnen, und die ihr in den Sinn kommen, vor Augen treten, wenn sie den Stift ergreift. Auch jene des Ehemanns, nachlässig vergessen in einer Ecke des Arbeitszimmers. Schließlich die bunt im Flur durch einander geworfenen Schuhe ihrer großen Enkelschar…
Personen haben im vorliegenden Fall keine Stimme. Diese armen Objekte, verspottetet, lieb gewonnen, leben ihr Eigenleben. Der isolierte Schuh scheint traurig über den Verlust seines Fußes. Dieser Schuh hat ein beschwerliches Leben gelebt: sein Besitzer oder seine Besitzerin hat ihn nicht geschont. Aber ohne Fuß ist der Schuh verloren und sackt mit dem Gefühl der Nutzlosigkeit in sich zusammen. Was besonders ins Auge fällt in Odile Villeroys Vergegenständlichungen unserer täglichen Mühsal sind ihre Windungen. Geometrische Formen und starre Materialien sucht man hier vergebens. Betrachten Sie vielmehr die Ränder, die Außenlinien der kleinen und großen, die Form von Mündern annehmenden Krater – nicht nur in den Schuhen, sondern auch in den Taschen und Regenschirmen. Der Kompressionsstrumpf, eine Krankenhauserinnerung, erzählt mehr über die Krankheit oder den Unfall als jeder Arztbericht.
Nichts Morbides jedoch in diesen Zeugnissen. Der Betrachter vernimmt die kleine Geschichte, die jene merkwürdigen Strümpfe zu erzählen haben. Auf einem Haufen bringen sie den Überdruss der Mutter zum Ausdruck, die sicherlich versucht wäre, die ganze Bande zu Frikassée zu verarbeiten (was sie 2000 auch tun wird, aber in Öl in einem Gemälde); zu Paaren vereint, unterhalten sie sich friedlich. Was die Taschen angeht, so besteht kein Zweifel daran, daß sie etwas „auszuspucken“ haben. Vielleicht die Eingeweide ihrer Besitzerin, die, wie man sich vorstellen mag, zerrissen ist zwischen den familiären und gesellschaftlichen Verpflichtungen und der Sehnsucht nach Einsamkeit, um den Kleidern, Schuhen, Taschen und Regenschirmen eine – wie soll man sagen – Chance auf Autonomie zu geben oder einfacher, Emotionen zu verleihen? Und mehr noch: diese Gegenstände, die sie uns in ihrer kruden Realität unverschleiert vor Augen führt, vermitteln ihre intimsten Gefühle. „Liebt mich!“ murmeln sie alle, „liebt mich, so wie ich bin, mit meinen verknoteten Händen und meinen karikierten Füßen. Liebt mich um meiner selbst willen. Frau und Zeichnerin, unabhängig von meinem Namen und meinem Stammbaum“ – hier verbirgt sich das Herz der – genealogischen – Geschichte.
Stillleben: vie „coyte“. Stilles Leben. Ich habe diesen deutschen Ausdruck immer dem französischen Ausdruck „nature morte“ (tote Natur) vorgezogen. Warum? Weil diese Gegenstände leben, ja wahrhaftig! Und konsequenter Weise auch leiden. Was die Lebenden anbetrifft, würden wir sagen, daß sich Odile Villeroy in anekdotischer Weise für sie interessiert: Skizzen, meist in den Ferien, die Figuren immer müßig, kontemplativ oder meditativ. Die einen am Strand, die andern vor einem Felsen, während eine Art Monsieur Hulot in Dauerferien irgendetwas beobachtet. Vielleicht ein Tennismatch? Was Odile Villeroy bei den Menschen liebt? Dass sie sich loslassen natürlich. Dass sie Namen, Funktion, Status und andere Eigenschaften, ja ihre Identität vergessen. Wie jene Zeitungsleser, die zugleich anwesend und abwesend scheinen, lebendig hinter den Seiten verborgen. Die Rückkehr zum Elementaren, zum Archaischen: was kann einfacher und bewegender sein als ein Mann, Säule einer erinnerungsschweren Familie, auf seinem Bett eingeschlafen, das Laken über die Stirn gezogen, verletzlich.
Odile Villeroy stellt in diesem Jahr in Sulzbach im Salzbrunnenhaus aus. Ein Name, der programmatischen Charakter hat. Denn diese Frau hätte, ruhelos, unbewusste Tage im Schoß ihrer Familie verleben können. Nein! Nein! Und noch einmal nein! Diese Frau, der es nicht an Salz mangelt, hat nie aufgegeben, einen verfremdenden Dialog mit ihrem Nächsten zu führen. Ausgestellt auf den beeindruckenden weißen Steinen dieses Saales sind ein unruhiges Herz und ein unruhiger Geist, die Sie entdecken werden. Welche Regeln verfolgt diese Kunst? Künstlerische Schöpfung geht immer mit einem Riss einher. Eine Form der Melancholie.
Valérie Deshoulières
Übersetzung : Pr. Dr. Patricia Oster-Stierle