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Dessins d’Odile Villeroy de Galhau et textes de Matthieu Villeroy […]

Isabelle Cridlig und Odile Villeroy

„Dessiner pour voir – zeichnen um zu sehen“,
so lautet der Titel dieser Ausstellung. Zeichnen wir um zu sehen?  

Wenn wir zeichnen, führen die Augen unsere Gedanken und unsere Hände. Aber können umgekehrt unsere Hände auch unseren Blick und unser Denken führen? Sehen wir beim Zeichnen anders, besser, genauer als es unsere Augen vermögen? Würde jeder etwas Anderes sehen und zeichnen? 
Wir können betonen und weglassen, interpretieren und abstrahieren, um die Essenz des Gesehenen darzulegen. Nicht nur das was ist, sondern auch das was wir fühlen und was es bedeutet. 
Zeichnen ist in Bildern denken!
Eine Zeichnung ist wie ein Fenster. Wir schauen hinein, hindurch, von außen oder nach innen. Wir können unsere Augen wie ein Fernglas benutzen, das wir umdrehen können: vom Detail zum Gesamten, oder anders herum.
Diese Ausstellung vereint zwei Künstlerinnen, deren Weg unterschiedlich ist, die aber beide in ihren Naturdarstellungen das Gleiche suchen:  

Die äußere Form und das innere Wesen.

Anders als in einem Interview mit einem Journalisten oder in der kunstkritischen Betrachtung eines Kunsthistorikers sind wir uns als Künstlerinnen auf Augenhöhe begegnet, offen füreinander, im gegenseitigen Verständnis. Bei unseren vorbereitenden Treffen hatten wir das Privileg, uns fachlich und menschlich nah zu kommen. Ein solch gelungener gedanklicher Austausch unter Künstlern ist eine Bereicherung für alle Beteiligten. 

Ich werde auf einige Exponate dieser Ausstellung näher eingehen, aber vor allem möchte ich Ihnen die beiden Künstlerpersönlichkeiten und ihre Intention vorstellen.

Odile Villeroy 
führt diesen Blick vom Außen zum Innen.
Wir sehen auf das Gewordene, das Abgeschlossene!
Odile Villeroy hat den Blick der Künstlerin. Mit ihrer traditionellen Ausbildung zeichnet sie in der klassischen figurativen Weise mit Kohle, Schwarzkreide, Rötel, Pastell. In der Radierung gibt sie diesen Zeichnungen eine Aufwertung durch die hohe graphische Qualität. Ihre Themen findet sie in der Begegnung und Beobachtung der sie umgebenden Natur, im direkten, persönlichen Lebensumfeld. Die Landschaft der Bretagne, die Felsenküste, die Bäume im Park, immer nah und vertraut, das sind ihre Partner für die Untersuchung der äußeren Erscheinungen und der Ereignisse, die sie geformt haben. Ihre Bäume und Felsformationen sind isoliert von der umgebenden Landschaft, sie stehen für sich und lassen uns in ihrer Erscheinung lesen: das Resultat einer Lebenszeit, geprägt von existentiellen Spuren, die man deuten und entschlüsseln kann. Bäume erscheinen gerne als natürliche Metaphern menschlicher Befindlichkeiten und Lebensprozesse. Diese wesenhafte Verwandtschaft wird deutlich in den Titeln, die sie ihren Baumporträts gibt: „terassé“, „boursouflé“, „le vieil homme“ oder wie auf der Einladungskarte „enlacé“. Dies ist die Wurzel eines abgestorbenen Baumes, losgelöst, gewunden, die aber erstaunliche körperliche und lebendige Formen birgt. Die Rinde umhüllt schützend etwas, das dabei ist, sich loszulösen. Zarte Baumpersönchen wirken fragil und verletzlich.  Andere greifen temperamentvoll in die Umgebung, Arme die sich ausstrecken, Hände die fassen, Finger die zeigen. Manche stehen fest und solide wie unbeugsame Silhouetten, zu Baum gewordene Gesten. Ihre Bäume sind Individuen, Einzelporträts, sie werden zu Symbolen. Odile Villeroy erkennt die innere Bedeutung in der sichtbaren Natur und lehrt uns, dieses Wissen auf die menschliche Natur zu übertragen. Das Wissen um das Leben.
 Vom großen Ganzen dringt sie in das Verborgene vor. Wir fühlen das Gewordene, ihr Wissen um das Leben.
 Eine besondere Qualität des Zeichnens bietet die Radierung, diese wunderbare graphische Meisterkunst, die Odile Villeroy und ich seit Jahren zusammen erforschen. Nachdem ich 2007 in einer Ausstellung in Metz ihre Zeichnungen sah, wusste ich, hier ist eine Künstlerin am Werk, der ich die Techniken und Geheimnisse der Radierkunst vermitteln will. Sie hat sich auf dieses neue Abenteuer eingelassen und sich im Laufe der Jahre die wichtigsten Techniken angeeignet. Zuerst die Strichtechniken: Kaltnadel, Stichel und Ätzradierung. Als nächstes die Technik der „Aquatinta“, die Manier der flächigen Halbtöne im mysteriösen „hell-dunkel“, der ganze Zauber der Radierung. Schließlich findet die Künstlerin in der Zuckertusche-Technik, einer sogenannten „Reservage-Technik“ zu einem malerischen Gestus. Mit Pinsel und Tusche kann sie nun frei auf die Platte malen. Eine Radierung wird aber immer erst mit dem Druck auf Papier geboren. Hierin liegt das zweite Abenteuer, eine Herausforderung, die den Künstler mit jedem Handdruck auf dem zauberhaften Büttenpapier belohnt: die Geburt eines neuen Bildes. Die Radierung ist eine Arbeitsweise, die sich in der Intimität des Ateliers entwickelt. Sie erfordert Disziplin, Geduld und Planung, aber auch die Bereitschaft zu Spontanität und Unvorhersehbarem. Die Erregung vor dem weißen Blatt ist nichts im Vergleich zu der Aufregung im Angriff auf die polierte, unversehrte Metallplatte. Hier ist jeder Schnitt mit der Radiernadel unauslöschlich eingegraben, eine Verletzung der Oberfläche, die später die Druckfarbe aufnehmen und unter der Druckpresse an das Papier weitergeben wird. Aufmerksamkeit, Genauigkeit, Sensibilität, Disziplin, das sind die Tugenden der Radierkünstler. Hier ist ein Weg, Dingen die Zeit zu geben, die sie brauchen, in der inneren Ruhe und Schritt für Schritt. Vieles entsteht verdeckt, langsam und still. Ich wusste, dass alle diese Wesenszüge gut zu Odile Villeroy passen. Sie ist dem Geheimnis der Radierung ganz nah gekommen.

Erst vor wenigen Wochen haben wir zusammen im Atelier die Freude geteilt, wieder einmal das große Rad der Handdruckpresse zu drehen. Die Radierung „à l’abris – im Schutz“ ist geboren. Dieses ganz frische Blatt ist heute in der Ausstellung zu sehen. Das Bildmotiv, mit den Techniken der Ätzradierung, Aquatinta und freier Ätzung gearbeitet, ist in einem Quadrat gefasst. Von einem dunklen, horizontalen Linienraster heben sich im Vordergrund helle, amorphe, stilisierte Formen ab, die zu schweben scheinen, in die Freiheit drängen. Die gesamte Skala der Hell-Dunkel Werte ist genutzt. Der figurativ gezeichnete Hintergrund ist die Basis für einen gemalten Vordergrund, freier und abstrakter. 

In dieser Ausstellung stellt die Künstlerin uns auch zwei Bücher vor. Beide sind eine Begegnung zwischen Mutter und Sohn und zwischen zwei Ausdrucksmitteln, der Schrift und dem Bild.
Das 2014 entstandene Buch „Après la pluie – Nach dem Regen“ ist ein Dialog zwischen den Gedichten ihres Sohnes Michel Villeroy und den Originalradierungen, die den Text illustrieren. Miniaturen, alle in einem Quadrat gefasst, jede in einer monochromen Farbigkeit. Die kurze Sprachform des Gedichtes entspricht dem reduzierten Bildformat. Das zweite Buch „Ecorchés“ ist 2015 erschienen. Es ist eine Auswahl an Zeichnungen, mit Texten von Matthieu Villeroy. Hier bezieht sich der Text auf die fertigen Abbildungen. Welch schöne Ergänzung zwischen Sprache und Bild und zwischen Mutter und Sohn!   

Isabell Cridlig führt den Blick von innen nach außen. Wir sehen das Werdende, das Unfertige, das stetige Wachsen!

Sie untersucht die Natur mit den forschenden Augen der Biologin. Es sind Schnitte ins Innere, sie seziert ihre Modelle, sie will es genau wissen. Ihr einziges graphisches Zeichen ist die Linie, der fortlaufende Strich, wie in der Geometrie, als Ausdruck für die materialisierte Zeit.  

Zitat: „Meine Arbeit untersucht die Abläufe von Zeit und die Veränderungen, die sie bewirkt. Durch beobachten, ertasten und skizzieren der Welt entstand in meiner Vorstellung die Idee der wachsenden Zeichnungen. Jede dieser Ideen kann „gepflanzt“ und entwickelt werden: direkt auf eine Mauer, in eine Landschaft, auf Papier… der Körper zeichnet und die Zeichnung wächst. Eine performative und mediative Erfahrung.“  

Isabell Cridligs Naturmodelle enthalten die fortlaufenden Etappen einer Lebenszeit, innere Silhouetten. Der Maßstab ihrer Arbeit ist 1:1, die Größe ihrer Bäume ist authentisch. Sie reizt diese Größe aus, alles Maß überschreitend, eine Grenzerfahrung. „So weit und so hoch wie möglich“ sagt sie mir.

Im Gegensatz zu Giuseppe Penone, der die Bäume aufblättert, Schicht um Schicht, bis zum Inneren, stellt Isabelle Cridlig sie wieder her. Eine Rekonstruktion. In diesen Arbeiten zeichnet sie das wachsende Leben nach und weckt in uns den Respekt vor der Kraft, die dieses Leben birgt. Vom Detail ausgehend entwickelt sich das Ganze. Wir erkennen das Werdende.

„Végétalité“ nennt sie diese Recherchen. Der Begriff setzt sich zusammen aus „végétal“ und „vitalité“. Sie wendet sich dem Ursprung zu, dem Samenkorn, das sich zum Baum entwickeln wird, sie kehrt zurück ins Herz. Ihre Linie wächst wie der Baum, ununterbrochen, Saison für Saison, nach oben in seinen sichtbaren Teilen, nach unten für die unter der Erde liegenden Teile.
In jeder dieser monumentalen Zeichnungen fixiert sie einen Augenblick in der ewigen Veränderung. Es sind Protokolle eines Momentes, wie in einem wissenschaftlichen Schema erfasst mit einem „open end“.

Während der 11 Jahre wo sie in Madagascar lebte und in einem botanischen Park arbeitete war der Baobab ihr Modell. Sie machte sich den Erhalt dieser Riesenbäume zur Aufgabe, nicht nur im Bild, sondern auch tatsächlich, indem sie neue Sprösslinge pflanzte und pflegte. Das hier ausgestellte Baumbild misst 10 x 2,65m und setzt sich aus 5 Papierbahnen zusammen.

Die waghalsige Idee ihrer „Végétalité“ ist, diesen Prozess immer weiter zu entwickeln, mit der reellen Größe des Baumes mitzuhalten, ohne Limit. Keinen kleineren als den berühmten „Hyperion“ hat sie dabei im Blick, den höchsten bekannten Baum der Welt, ein kalifornischer Sequoia Baum von 115 Metern Höhe. Ein Vorhaben, dass niemals endet wird, solange der Baum weiterwächst.

In der Arbeit „Cerner“-“Umkreisen” untersucht Isabell Cridlig die Idee der schrittweisen Ausdehnung. Von der Mitte eines horizontal durchgesägten Stammes breiten sich die Jahresringe aus und legen die Spuren des werdenden Baumes in seinem Lebenszyklus frei. In der ständigen Wiederholung der Jahreszeiten entsteht die Kreisform, alles dreht sich um das Zentrum.  

Mit farbigen Linien zieht die Künstlerin nun spiralförmig die Bahnen der Säfte im Baum nach. In der hier gezeigten 4-teiligen Installation „Cerné“ ist der mittlere Kreis von kleineren umgeben: es sind die noch jungen Nachbarbäume, die sie in der Realität vorgefunden hat.

„Passant“- „Passanten“ nennt Isabelle Cridlig ihre Performance, die sie in Metz an der „Porte des Allemands“ aus einer kleinen Kabine blickend gezeichnet hat, frei aus der Hand. Der Zeichenstift folgte den vorübergehenden Personen, skizzierte ihre verkleinerten Umrisse vor Ort, „sur le vif“. Isabelle Cridlig schlüpft in die Haut ihrer Passanten, mit dem Zeichenstift ertastet ihre Hand die Körper, ihr Körper zeichnet andere Körper. An den Computer weitergeleitet entsteht eine lange Prozession, die dann in Lebensgröße auf eine Wand projiziert werden kann. Im kleinen Format werden die „registrierten Personen“ auch auf Papier gedruckt. Auf einer 12 m langen Papierrolle reihen sich alle diese Silhouetten aneinander, eine wahre „bande dessinée“, wie man die Comic-Zeichnung auf französisch nennt.  Man denkt dabei auch an ein japanisches Rollbild, das „Makemono“.
In dieser Passage durch die Stadt gehen Menschen vorüber in einer unaufhörlichen Folge, flüchtige und stetig sich wiederholende Begegnungen. Keiner gleicht genau dem anderen, und doch sind sich alle ähnlich. Wir erkennen uns wieder, als Teil der Gemeinschaft.  

Im „Fil de lecture“, im „Lesefaden“ wird die Handlung des Lesens in ihrer Dauer und in ihrer Körperlichkeit protokoliert: die Bewegungen der Finger, Hände, Arme, Augen, Nacken, Rücken. „Lesefaden“ ist ein graphischer Prozess nach dem Vorbild der Hin- und Her Bewegung der Augen auf der Textlinie, des Fingers, der dieser Linie folgt, der Hand die blättert. 
Die ununterbrochene Linie archiviert ein Bild aller gelesener Bücher, während eines ganzen Lebens, zu Türmen gestapelt oder im Regal der Bibliothek aufgereiht. Könnte man so die Größe unseres Wissens oder unseres Gedächtnisses messen, bildlich darstellen?

Zwei Künstlerinnen führen in dieser Ausstellung einen Dialog über die Bilder des Lebens. Sie erforschen die Zeit, die Langsamkeit oder Geschwindigkeit, die Dauer. Sie erkunden den Raum, reduziert oder groß ausgebreitet.
Sie beobachten Entwicklungen, Veränderung, Beständigkeit oder Gleichheit. 

Die beiden Wege scheinen konträr, mal vom Detail, mal vom Gesamten ausgehend und treffen sich doch in der gemeinsamen Suche, in der gleichen Weltbetrachtung. Und sie kommen zu demselben Schluss: Alles gehört zusammen, ein Kreislauf, alles wächst, Bäume und Steine, und alles verändert sich. In allem ist Erscheinung und Bedeutung. 

Diese Philosophie können wir ausdrücken, mit Worten oder mit Bildern, in einer Zeichnung.
Beide Künstlerinnen sind mit Leidenschaft auf dem Weg. Der führt vom Auge, das sieht, über unsere Gedanken, die erkennen, zur Hand, die zeichnet. Zeichnung heißt auf französisch „dessin“. Das Wort „dessein“ wird genauso gesprochen, aber anders geschrieben und meint Zweck, Zielsetzung, Absicht.  

Odile Villeroy und Isabelle Cridlig haben die gleiche Intension: im dessin und im dessein. Ihre Bilder enthalten das Wesen des künstlerischen Tuns, sie sind Ausdruck des „Elan Vital“, der Lebenskraft, die uns alle nährt.

Zeichnen um zu sehen – zeichnen um zu verstehen!

Magdalena Grandmontagne, Dillingen 23. Oktober 2022